Der letzte Newslettertext zu Christian Krachts Eurotrash entstand auf einer Zugfahrt. Wie ironisch, war doch das Vorgängerbuch der Auslöser für meine lebenslange Liebe zu Bordbistros. Ich fuhr also das erste Mal seit Monaten durch NRW, draußen zogen die Windräder vorbei und das Buch lag vor mir.
Die Gedanken und die Adjektive flossen in mein Notizbuch. Unter meinen Kopfhörern überhörte ich fast die Durchsage, dass der Anschlusszug aufgrund hoher Verspätung nicht erreicht werden könne. Ich hätte gern den Protagonisten aus Faserland aus den 90er Jahren heraus darüber fluchen gehört, wo alle Züge wahrscheinlich so aussahen:
Noch während wir im Schritttempo in Dortmund einrollten wurden die realen Probleme größer als meine Abneigung gegen die Textwelt in Eurotrash. Wie kommt man denn Sonntagnachts aus dem Ruhrgebiet nach Hause, irgendwo zwischen verpassten Zügen und Ersatzbussen?
Nur durch Zufall traf ich am Gleis den Schaffner des ersten Zugs und sah offenbar verplant und bepackt genug aus, dass er sich erbarmte und mir einen Zettel in die Hand drückte, mit dem ich den nachfolgenden ICE ohne Aufpreis mitbenutzen durfte. “Siehst du, Christian Kracht, welche Emotionen du verpasst, wenn du immer nur Leuten mehr und mehr Geld in die Hand drücken kannst, die Anspannung, der Stress und dann die Erleichterung, doch noch sicher nach Hause kommen - das hat man alles nicht, wenn man sich auch einfach vom Helikopter irgendwohin jetten lassen kann,” wollte ich dem Protagonisten zurufen, als ich in den Nachtzug stieg und ein Abteil für mich allein hatte. Literaturkritik als Klassenfrage.
Ich konnte also beruhigt weiter vor mich Notizen zum Text machen und suchte eine Stelle in Eurotrash, als die Durchsage mit den nächsten Stationen kam: “Hagen, Wuppertal, Köln,…. Freiburg, Basel SBB.”
Es war der magische Schnellzug, in den ich da durch Glück gestolpert bin. Nach Basel, in die Schweiz. Vor mir das aufgeschlagene Buch:
“Komm, ich will nach Basel fliegen.”
Was man eben so sagt, wenn alles, alles, alles auf der Welt nur ein Schnipsen mit der Kreditkarte entfernt ist.
Aber nach dem Augenrollen über den demonstrierten Reichtum, spürte ich einen Stich. Ich will auch nach Basel. Ich will überhaupt irgendwo anders mal wieder hin. Der Tagesausflug hatte etwas in mir wachgekitzelt, das ich seit Monaten und Monaten Pandemie nicht mehr gespürt hatte: Fernweh. Plötzlich wirkte etwas greifbar, was ewig lang in trüber Ferne gelegen hatte - eine Reise. Und nicht nur irgendeine Reise: Sondern die, über die ich gerade las - und schrieb - und die mir so sehr unter die Haut gegangen war. Komm, ich will auch nach Basel, sagte etwas in mir. Komm schon, du sitzt sogar im richtigen Zug. Bleib sitzen, bleib einfach sitzen.
Draußen die dunkeln Städte Nordrhein-Westfalens nach einem ersten milden Sonntag, irgendwer grillte noch leicht fröstelnd und der Zug raste durch Hagen immer näher auf Wuppertal zu.
Der Gedanke war so klein und doch so wirkmächtig. Ich will auch mal in Basel gewesen sein. Mit Franken bezahlt und einen Berggipfel in der Ferne gesehen und am Rhein gesessen haben. Ich will hier sitzen und lesen und schlafen und in der Schweiz aufwachen. Die Schweiz, dieses magische Land, das mir Christian Kracht gerade so umschmeichelhaft verkauft hatte. Es war nur eine kleine rebellische Aktion entfernt - oder eine Nicht-Aktion, nur ein Nicht-Aussteigen.
Mit zu dem Gedanken gesellte sich auch die Angst. Wie soll das denn gehen, es ist Sonntagabend und du musst morgen arbeiten. Du hast keinen Laptop dabei, kein Diensthandy, du müsstest dich krankmelden und für wie lange geht das ohne Attest? Du hat nur dieses Sommerkleid an, leicht durchgeschwitzt, nichts dabei, keine Zahnbürste, keine Brille, keine Schweizer Franken; kann man da am Automaten mit einer deutschen EC-Karte… ? Und dann: nur den Covid-Test vom Vortag, kommt man damit überhaupt über die Grenze? Haben Hotels eigentlich wieder… und dann: Hotels sind schon auch teuer, oder? Ist die Schweiz nicht eh sehr teuer? Verdammt, kann Mutter Kracht mir nicht ein paar ihrer Tausend Franken-Scheine kurz rüber Paypalen? Und wer füttert eigentlich die Katzen?
So saß ich also, gelähmt von meiner eigenen Schnapsidee und dem Wunsch, ein Leben zu leben, das einem Romanplot mehr ähnelt als mein eigenes. Als meine Romanfigur wäre ich vielleicht sitzen geblieben und hätte die Stelle später gestrichen, weil sie mir zu kitschig-ironisch vorgekommen wäre. Aber als zwischenzeitlich erwachsene gewordene reale Person sah ich mich in diesem Dilemma mehrfach im Abteil auf- und abgehen. Draußen vor den Fenstern schon Oberbarmen. Es ging nicht. Nicht wenn morgen die Arbeit anklopft, das Gehalt noch nicht überwiesen ist und das Leben zuhause voller dringlicher Listen und Termine ist.
Vor dem Wuppertaler Hauptbahnhof liegen Züge immer tiefgeneigt in der Kurve. Ich stand auf, sehr sehr sehr langsam, falls ich doch auf den letzten Metern noch den Mut finden sollte, sitzen zu bleiben. Komm, ich will nach Basel. Ich will Jemandem eine Postkarte schreiben, einen Tag am Rhein sitzen, einen Eiskaffee trinken und ganz kurz extrem lebendig sein.
Irgendwann, versprach ich mir beim Aussteigen.
Irgendwann liegt ein leerer Tag vor dir und du wirst ohne nachzudenken in den Zug steigen und nach Basel fahren. Aber nicht jeder Tag kann eine Drehbuchseite sein.