Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse, Raubkunstsammler dieser Stadt.
Gedanken zu Christian Krachts „Eurotrash“
Die erste lange Zugfahrt in über einem Jahr. Ich habe Christian Krachts neuen Roman Eurotrash vor mir liegen und merke, wie ich unter der Maske den Mund bewege, die Lippen verbissen, die Mundwinkel verzogen, ab und an ein gedämpftes Murmeln der Empörung. Eurotrash hat mich an der Hand genommen und in eine Textwelt gezerrt, in der ich lieber nicht gewesen wäre und aus der ich gern aussteigen würde, aber, wie der Protagonist und seine Mutter irgendwo auf der Hälfte des Textes in einer Gondel festsitzend, schwebe ich über dem Abgrund der Buchseiten, gefangen zwischen Höhenangst und der schrecklichen Erkenntnis, dass die Fallhöhe auch noch selbstverschuldet ist: ich könnte Eurotrash nicht so hassen, hätte ich Faserland nicht so sehr geliebt.
Gleich zu Beginn sagt der Protagonist, der Christian Kracht heißt, er habe da einen Roman geschrieben vor Jahren, den er aus unerfindlichen Gründen Faserland genannt habe. Ich klinke mich ein und sage, ich heiße Emily Jeuckens und habe vor Jahren aus unerfindlichen Gründen in einer studentischen Redaktion gesessen und einen Text vorgeschlagen, der da „An den zerfaserten Rändern der Welt – 21 Jahre Faserland. Was bleibt uns denn, außer Isabella Rossellini?“ hieß.
Er war kurz und bissig und brachte nur vage zum Ausdruck, was mir „Faserland“ bedeutet hat. Der Roman war mein Seligkeitsding und ein Zufallsbuch, keines, das ich zwangsweise in einem Seminar durchgenommen und zerkaut hätte, sondern eines, das unscheinbar unten auf einer Leseliste auftauchte, also am Ende der Literaturgeschichte. Ich wusste nichts über Kracht oder die Erschütterung, die es ausgelöst hatte. Aber ich las es und verleibte es mir ein, ich wollte mit dem Protagonisten koksen und allen postpubertären Hass auf die Welt in solche wortgewandten Kunstwerke von Sätzen verwandeln. Das Buch gab mir die Erlaubnis, Alle zu verachten, die Armen, die Reichen, die Studenten, die Frauen, die Männer, die Familien, die Berliner, die SPD, Alle, solange man nur auch sich selbst nicht ausstehen kann, fleißig an der eigenen Dekonstruktion arbeitet und dafür ein paar clevere Attribute findet. Wenn mich heute jemand fragt, welches Buch mich am meisten geprägt hat, sage ich Faserland. Es ist kein literarischer Happy Place, aber es ist ein Stückchen meiner Identität geworden, mit allen Abgründen, die damit einhergehen.
Und jetzt erscheint Eurotrash, ein Buch, das dreist behauptet, es sei der Nachfolger.
Ein Protagonist, der Christian Kracht heißt und in der einzigen lustigen Szene des ganzen Buchs sagt, er habe „Die Vermessung der Welt“ geschrieben. Der in Axel Springers Sylter Waschbecken pinkelt, seiner Mutter den Stomabeutel wechselt und bereut, eine Frau in einem Tibet-Urlaub nicht gefragt zu haben, ob sie mit ihm Essen gehen will. Ist es wirklich der gleiche, wohlstandverwahrloste, sozial, emotional und erotisch verkümmerte Mensch wie in Faserland? Möglich ist es. Man hatte am Ende des ersten Buchs zumindest nicht dem Eindruck, dass ein Happy End nach dem letzten Satz ansteht. Vielleicht wäre das Boot doch besser untergegangen, hätte der damals noch namenlose Protagonist gewusst, was auf der anderen Seite der Jahrtausendwende auf ihn wartet. Er ist ein Mann geworden, der sich durch Zürich zum Pflichtbesuch bei der moribunden Mutter quält und sich in einer nicht endenden Larmoyanz beklagt, seine Familie habe ja nichts gehabt – nichts, außer Saville Row Maßanzügen, dem Haus in Gstaad, den Kindermädchen, den Skiresorts, den Reisen, den 35,000- Dollar Birkin-Bags der Stiefmutter und den Millionen Franken, die seine Mutter in die deutsche Rüstungsindustrie investiert hat, während der Vater zusammengerollte Raubkunst unterm Bett verstaute.
Dieser Christian Kracht schleppt nun die stets am Rand der Überdosis Alkohol und Schlaftabletten kratzende Mutter durch Berge und Täler um Geld und andere gefühlsbetonte Altlasten loszuwerden. Die Beiden arbeiten sich mit emotionsbefreiter Härte aneinander ab und irgendetwas soll das der Leserin vermitteln, vielleicht, dass ein dickes Schweizer Konto keine Mutterliebe ersetzt, oder, dass es sich lohnt viele Klassiker der europäischen Literaturgeschichte zitieren zu können, weil man seine Angehörigen mit Namedropping in den Wahnsinn treiben kann. Hat die Mutter nun wirklich Eugene O’Neill gelesen, oder nicht? Oder liest sie doch die BUNTE und tut nur so als kenne sie die Europäische Literaturgeschichte? Das ist aus irgendwelchen Gründen sehr wichtig. Vielleicht weil der Protagonist seine Mutter in den letzten gemeinsamen Tagen noch mal richtig kennenlernen will (eher nicht), oder weil sie ihn kritisiert, nicht Marcel Beyer zu sein (was erträglicher wäre, wenn sie nicht wüsste, wer das ist) oder vielleicht weil es das letzte Statussymbol ist, das sie gemein haben (denn über Bugatti-Blusen wurde sich schon genug gestritten).
Überhaupt, europäische Kulturgeschichte.
Der Protagonist, der vielleicht nicht Christian Kracht ist, aber zumindest so heißt, hat verstanden, dass das 20. Jahrhundert vorbei ist. Dass mit ihm Kulturgüter und Statussymbole und Geistesgeschichte zu Ende gegangen ist, zu der man sich mit dem Geld der Familie doch jahrzehntelang Einfluss gekauft hat, die man geprägt und verstanden hat und von der man postironisch Abstand nehmen konnte. Das soll nun alles EUROTRASH sein? Es soll. Doch nicht mal richtig trauern darf er um diese Welt von gestern, denn die Granden der Dynastie waren leider hochrangige Nazis, die nach dem Krieg erst mit Springer und Suhrkamp trinken waren, um sich dann im Zweit- oder Dritthaus von isländischen Hausangestellten auspeitschen zu lassen. Diese vorletzte euro-trashige Generation ist bereits passé und man ist geradezu erleichtert. Mit dem Protagonisten und seiner Mutter steht die Familie nun kurz vorm Aussterben und alles, wofür die Eltern und Großeltern standen, löst sich auf, es – zer-faser-landet sich.
Liest man Eurotrash als Fortsetzung von Faserland, so ist es wirklich die logische Konsequenz: der lebensfeindliche, genussversessene, gänzlich lebensunfähige Protagonist hat aufgehört, die Außenwelt zu verdammen und zerfleischt nun was noch übrig ist: sich selbst und seine Familie. Gespenstisch wandern Mutter und Sohn durch ein Europa, in dem sie sich nicht wiedererkennen. Ein nachvollziehbarer Schock, wo sie doch alle Validierung ihr Leben lang im Außen gefunden haben. Und jetzt ist das Außen nicht mehr an ihnen und ihren verschacherten Kunstwerken interessiert. Die neue Welt isst gerne vegan, sie sitzt in Gestalt dreier indischer Frauen englisch sprechend auf einem Berggipfel und will nicht mal geschenktes Geld annehmen. Die Hexen aus Macbeth will die Mutter in ihnen erkennen und man will ihr tröstend die Hand tätscheln oder sie gleich den Berg runterschubsen, um das Elend zu beenden.
Soweit treibt einen das Buch, zum blanken Ekel vor dem Figurenpersonal, das die Last des eigenen Reichtums so qualvoll durch Mitteleuropa schleppt. Da kleben zwei an der eigenen Irrelevanz bis zum stationären Aufenthalt in der Psychiatrie verzweifelte Erwachsene ödipal aneinander und erzählen sich kleine Geschichten über Unternehmen und Diktatoren und Missbrauch. Hier vermengen sich die Fiktion und die vom Autor Christian Kracht in früheren Poetik-Vorlesungen thematisierte sexuelle Gewalt in seiner Kindheit – was es noch schwieriger macht, Eurotrash neutral als Roman zu lesen. Wurde Mutter Kracht vergewaltigt? Wurde der Großvater wirklich in einer geheimen Fetisch-Kammer durchgekinkt? Müsste man mehr Mitleid empfinden für die emotional zerrüttenen Charaktere, die vielleicht in Wahrheit doch real sind? Oder ist das Spielen mit der Realität nur der Joker, der alle anderen Exzesse entschuldigt? Wie witzig wäre das, der Star-Autor, der mit seiner Mutter und sechshunderttausend Franken in einer Plastiktüte unterwegs ist? Das kann ja gar nicht sein und dann kann der ganze Rest ja auch nicht…– oder?
Das traurige Fazit: Es ist egal.
Eurotrash ist so schwermütig, referenzüberladen und gleichzeitig komplett irrelevant, dass ich es kaum durchlesen wollte. Es war mir egal, ob der Protagonist am Ende schon wieder grenzsuizidal am Zürichsee sitzt, ob er endlich Thomas Manns Grab findet oder doch das von Borges, es ist einerlei. Es ist egal, ob die Figur Christian Kracht bei einer KiWi-Party vom Leibwächter von Joschka Fischer verprügelt wurde, oder der Autor selbst. Egal, ob es wirklich die Fortsetzung von Faserland ist, ob es eine ganz neue Meta-Fiktion ist, eine Figur zu schreiben, die sich als Autor eines realen Romans ausgibt oder eine Textwelt zu erschaffen, in der es auch einen erfolgreichen Roman namens Faserland gibt. Es ist egal, weil Thomas Mann, Borges und Joschka Fischer nur noch Geister einer vergangenen Ära sind – zumindest, wenn man sie, wie der Protagonist, nur als Markennamen des eigenen Intellekts missbraucht, wie zuvor Barbour und Fisch-Gosch. Dann sind sie leer, wertlos und gecancellt und wirklich nur noch ‘Eurotrash’.
In einer idealen Welt könnte man den Protagonisten kräftig schütteln, seine Mutter in eine nette Alters-WG im Ruhrgebiet setzen, das Vermögen an MissionLife spenden und die ganzen leeren Villen an diejenigen verteilen, die dringend Wohnraum brauchen. Klingt wie eine sozialistische Strafmaßnahme – meinetwegen, aber wenn Eurotrash eines belegt, dann, dass Erfolg im Kapitalismus immer nur Glückssache ist und Geld nicht nur nicht glücklich macht, sondern dass Reichtum die Seele korrodiert. Aber Romane sind keine politischen Manifeste für Umverteilung und, seien wir ehrlich, zum Glück, sonst hätte es Faserland nie gegeben. Faserland, ein Buch, das heute auch keinen Sinn mehr machen würde, diese planlose, ziellose, weiße, männliche, konsumorientierte Tirade, die mich vor fünf Jahren aus meinem selbstreferentiellen Coming-of-Age-Schlummer riss.
Letztendlich ist der einzige Trost, den ich am Ende von Eurotrash finde, dass ich mich heute nicht mehr mit dem Protagonisten identifizieren kann, kein Stück, nicht mal die polemische Adjektivflut dieses Texts macht mir noch Spaß. Ich möchte mich nicht länger nur über das definieren, was ich alles verachte. Denn irgendwann ist alles weg, das man so wortgewandt gehasst hat, die Nazi-Großeltern, die SPD, die Veganer, irgendwann liegt das Geld liegt tot und tötend in einem Depot und dann sitzt man von der eigenen Leere ganz ausgebrannt in der Schweiz am See.
Meine Faserland-Phase ist unwiederbringlich vorbei und wenn ich an das Europa des langen 21. Jahrhunderts denke, dann stelle ich mir einen postmigrantischen Kontinent der offenen Grenzen vor, mit dem genderfluiden Rock-Dandy der ESC-Gewinnerband als Ratspräsidenten. Das ist meine kleine verklärte Hoffnung und ich bin froh, dass die Lakonie in Eurotrash zu Grabe getragen wird.